Nach der Einrichtung der Kreispflegeanstalt in Jestetten im Jahr 1878 durch den damaligen Kreis Waldshut stieg auch die Anzahl der Todesfälle, und die Gemeinde stellte fest, dass die Kapazität des Friedhofs dafür nicht ausreichte. Nach langem Streit einigten sich Gemeinde und Kreis auf eine Art Kompromiss: Mit einem Zuschuss des Kreises baut die Gemeinde einen neuen Friedhof, der Kreis übernahm die Grabpflege.
Über Jahrzehnte hinweg war dieser „Anstaltsfriedhof“ gut belegt, aber in den letzten Jahren hat sich das Aussehen stark geändert. So wurde die Einfassung mit Sträuchern entfernt, um die Unterhaltskosten zu senken. Mit dem Übergang zum heutigen Seniorenwohnen und veränderten Begräbnisgewohnheiten sank die Belegung; viele Grabstellen wurden abgeräumt und nicht wieder belegt. Zur Zeit (Sommer 2022) laufen Überlegungen, demnächst alle Gräber abzuräumen und den Friedhof aufzugeben.
Aber bevor alle Gräber abgeräumt werden, sollen beispielhaft zwei auf dem Friedhof begrabene Personen vorgestellt werden. Das zeigt auf, dass es vielerlei Gründe gab, eine Person in die Pflegeanstalt zu bringen; aber bei allen Einweisungen gab es wohl die Gemeinsamkeit, dass die Verantwortlichen der Meinung waren, die betroffenen Personen sonst nirgends brauchen zu können*.
- Hans Isele (1933-1998). Wenige kennen diesen Namen, obwohl Hans Isele über Jahrzehnte in Jestetten gewesen ist. Aber unter dem Spitznamen ist Hans Isele nach wie vor sehr bekannt: Ha-Hans. Einige halten das Nennen dieses Spitznamens für despektierlich, aber er zeigt auf einfache Art das Artikulationsproblem von Hans Isele. Auf der anderen Seite war er ein freundlicher und schaffiger Mensch, oft hat er den Leuten im Dorf Brennholz gespaltet und sich so ein Taschengeld verdient. Ihm konnte man ruhigen Gewissens eine Spaltaxt in die Hand geben; wem kann man das heute noch?
- Alois Bär (1918 – 1996). Alois Bär wurde kurz „dä Bär“ genannt. Er war sein Lebtag lang Knecht auf einem Bauernhof, womit er mit der Mechanisierung der Landwirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg sowieso aus der Zeit gefallen war. Irgenwann meinte jemand, keine Verwendung mehr für ihn zu haben, und so kam Alois Bär im Pensionsalter nach Jestetten. Noch einige Jahre war Alois Bär im Dorf unterwegs, nahm Aufträge zum Dengeln von Sensen entgegen; die Sensenblätter dengelte er dann mit sanftem Hammerschlag und ungeheurer Ausdauer und Können. Dengeln, das ist ein Handwerk, das nur noch wenige verstehen.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass die Patienten der Kreispflegeanstalt sehr wohl ihre Fähigkeiten hatten. Es sind zwei von vielen Beispielen, wobei an die meisten nirgends mehr erinnert wird.
Weiterführende Literatur:
- Gründung der Kreispflegeanstalt: Denkschrift Kreispflegeanstalt Jestetten
- Paul Marquard: Der „Anstaltsfriedhof“, in Jestetter Dorfchronik 1992, Seiten 55 bis 57
- Fritzli als weiteres Original: Fritzli: Liebenswertes Schlitzohr vom Dienst
Erklärung zum historischen Foto mit Blick auf den Anstaltsfriedhof:
Das historische Foto lässt sich wie folgt zeitlich einordnen. Neben dem Friedhof ist die Feldscheune. Neben den Hauptgebäuden der Anstalt erkennt man die Liegehalle der Lungenheilanstalt. Ferner sieht man im Hintergrund die alte Pfarrkirche. Das ergibt ein Aufnahmedatum in den 40er/50er Jahren. Die Gräber auf dem Friedhof zeigen unterschiedliche Gestaltungen. Die lange verwendeten, an einen Soldatenfriedhof erinnernden steinernen Kreuze kamen scheinbar erst später in Gebrauch.
* Neben körperlichen und geistigen Gebrechen sei hier beispielhaft auf den Ausdruck „Spitalläufer“ verwiesen „… zieht in den Spitälern des Kreises umher und soll [deswegen] in die Kreispflegeanstalt Jestetten aufgenommen werden.“